Männer mit Depressionen

Wenn Männer depressiv werden, sind sie selbst oft die Letzten, die das bemerken. Sie spüren, dass etwas mit ihnen nicht stimmt, aber was? Psychisches, besonders wenn es als belastend erlebt wird, wird von Männern gern verdrängt, heruntergespielt oder umgedeutet, sodass es ihnen zunächst nichts anzuhaben scheint. Die Verdrängung kann also kurzfristig von Vorteil sein: Man funktioniert weiter wie bisher, wird vielleicht ein wenig zynisch, trinkt etwas mehr Alkohol, zieht sich ein bisschen zurück, geht vielleicht häufiger ins Fitnessstudio – und niemand weiß, wie es einem wirklich geht. Das ist Selbstschutz. Männer schützen ihre Identität und ihren sozialen Status vor Abwertung und Diskriminierung durch Aufrechterhaltung ihres äußeren Funktionierens. Aber die psychische Dynamik der Abwärtsspirale, die im Inneren einem Rhythmus folgt, ist dadurch auf Dauer weder zu bremsen noch zu steuern. Irgendwann kommt auch eine lang verdrängte Depression ans Licht. Sei es, dass der Mann in letzter Minute professionelle Hilfe sucht, oder sei es, dass es zu einem für die Umwelt unvorhergesehenen Suizidversuch oder gar Suizid kommt. Dass Depressionen sehr unterschiedlich auftreten können, ist bekannt. Wenig bekannt ist aber, dass es systematische Unterschiede in der Art und Weise geben kann, wie sich eine Depression bei Männern im Vergleich zu Frauen äußert.

Stereotype Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit tragen dazu bei, dass Männer und Frauen körperliche und psychische Signale ganz unterschiedlich wahrnehmen und bewerten. Männer reagieren weniger sensibel auf psychische Signale, und Ärzte fragen auch weniger danach oder interpretieren Äußerungen über Ängste, Stress und innere Anspannung oft als Ausdruck kardiologischer Beschwerden. Dieselben Beschwerden werden bei Frauen häufiger auf psychische Störungen zurückgeführt als bei Männern. Das sind eindeutige und systematische diagnostische Verzerrungen, die auch bei der Depression zu falschen Annahmen und Häufigkeitsangaben führen. Dass Frauen doppelt bis dreimal so häufig an Depressionen erkranken, wie die Diagnosemöglichkeit nahelegt, ist möglicherweise ein Mythos.

Die klassischen Depressionssymptome, die meistens von Frauen genannt werden, können bei Männern natürlich auch vorhanden sein, werden aber von diesen seltener angegeben, weil sie diese Symptome entweder bei sich selbst nicht wahrnehmen oder weil diese Symptome als „weiblich“ abgewehrt werden. Depressiv sein und trotzdem eine männliche Fassade bewahren – das ist ein Phänomen, das bei der männlichen Depression beachtet werden muss.

Externalisierung als Selbstschutz

Auf der psychologischen Ebene bedeutet Männlichkeit eine starke Abwehr von „unmännlichen“ Gefühlen. Aber wohin mit diesen unterdrückten Gefühlen? Sie lösen sich ja nicht auf, wenn sie abgespalten werden. Der psychologische Mechanismus, der jetzt einsetzt, heißt „Externalisierung“ und ist eine typisch männliche Form von Problembewältigung und Selbstschutz. Externalisierung meint die Verlagerung von Gefühlen, Bedürfnissen, Empfindungen, Ursachenzuschreibungen oder inneren Konflikten, die prinzipiell nur dem Einzelnen zugänglich sind, in die Außenwelt. Dazu gehört auch das Ausagieren unangenehmer innerer Spannungen (Angst, Trauer, Überforderung), etwa durch Sport, Essen, Alkohol, Sex, Mediennutzung oder durch Schweigen, rationalisierungsverstärkte Aggressivität, Reizbarkeit, Impulsivität, antisoziales Verhalten bis hin zu Gewalt und Kriminalität. Auch der Suizid kann als eine Form der Externalisierung verstanden werden.

Durch die Externalisierung sind die ursprünglichen psychischen Auslöser aber kaum noch zu erkennen. Diese verschwinden in einem Dickicht aus Ablehnung, Angst und Abwertung. Die Externalisierung erscheint oft als einzige Möglichkeit, sich selbst wieder positiv wahrnehmen zu können, denn das belastende Problem wird quasi aus dem Selbst herausverlagert. Das heißt, das Problem hat dadurch in der Selbstwahrnehmung nichts mehr mit der eigenen Person zu tun.

Internationale Studien, wenn sie auch noch nicht zahlreich sind, bestätigen das klinische Konzept einer männlichen Depression, das heißt einer Depression mit zum Teil depressionsuntypischen, aber männertypischen Symptomen, und zwar unabhängig davon, ob stationär behandelte Patienten oder Stichproben aus der Bevölkerung untersucht wurden. Einige wenige Studien untersuchten auch den Zusammenhang von konventionellen (internalisierenden) Depressionssymptomen und externalisierenden (nach außen gerichteten) Symptomen mit traditionellen Männlichkeitsnormen und fanden heraus, dass traditionell orientierte Männer, die in letzter Zeit ein kritisches Lebensereignis erfahren hatten, mehr externalisierende Symptome angaben.

Neben Aggressivität ist ein weiterer wichtiger Indikator für Depression bei Männern die emotionale Kontrolle („Ich habe alles in mich hineingefressen“, „Ich habe meine Gefühle für mich behalten“, „Ich fand es wichtig, nach außen zu funktionieren“). Auch hier bestätigt sich, dass je stärker die emotionale Kontrolle ist, desto stärker auch die depressiven Symptome ausgeprägt sind. Dieser Zusammenhang wurde in einer US-Studie übrigens nur bei Männern gefunden, nicht bei Frauen. Eigentlich nicht verwunderlich. Je stärker negative Gefühle unterdrückt werden, desto mehr bauen sie sich im Inneren auf, verhindern rationales Denken und brauchen schließlich ein Ventil wie etwa Aggression, Sucht, Hyperaktivität, Gewalt, Suizid.

Wenn die etablierten Depressionskriterien um externalisierende Symptome wie Aggressivität und emotionale Kontrolle erweitert werden, wird deutlich: Männer sind verletzlicher, als allgemein angenommen, und Depression ist mitnichten eine Frauenkrankheit.

Die männliche Depression

Nicht nur Experten, auch Angehörige sollten hellhörig werden, wenn ein Mann diese Symptome zeigt:

  • vermehrter sozialer Rückzug, der oft verneint wird

  • berufliches Überengagement, das mit Klagen über Stress maskiert wird

  • Abstreiten von Kummer und Traurigkeit

  • zunehmend rigide Forderungen nach Autonomie (in Ruhe gelassen zu werden)

  • zunehmende Intensität oder Häufigkeit von Wutanfällen, Impulsivität

  • Hilfe von anderen nicht annehmen: das „Ich kann das schon allein“-Syndrom

  • ab- oder zunehmendes sexuelles Interesse

  • vermehrter bis exzessiver Alkohol- und/oder Nikotinkonsum

  • anderes Suchtverhalten: TV, Sport, Glücksspiel, Internet etc.

  • ausgeprägte Selbstkritik, bezogen auf vermeintliches Versagen, Versagensangst

  • andere für eigene Probleme verantwortlich machen

  • verdeckte oder offene Feindseligkeit

  • Unruhe und Agitiertheit

Depression und Normen traditioneller Männlichkeit

Zudem haben beruflich hoch ambitionierte und zugleich traditionelle Männer, die nicht mit Stress umgehen können, ein höheres Risiko, psychisch zu erkranken.

Männer, die sich an Normen traditioneller Männlichkeit orientieren, sind stärker gefährdet als andere, depressiv zu werden – und lehnen es häufiger ab, sich dann Hilfe zu suchen. Dies legen Forschungen schon länger nahe. Deutsche Forscher befragten nun 250 Männer einer nichtrepräsentativen Stichprobe, die zum Untersuchungszeitpunkt wegen einer Depression ambulant oder stationär behandelt wurden und stellten fest: Am stärksten gefährdet waren die besonders beruflich ambitionierten Probanden, die zugleich an herkömmlichen männlichen Normen festhielten. Bei diesen Männern fanden die Forscher zudem eine gering ausgeprägte Fähigkeit, beruflichen Stress und Belastungen zu meistern.

Die Psychologen raten deshalb davon ab, die Priorität der Arbeit in der Therapie allzu sehr in Frage zu stellen. Die Arbeit könne für Männer beides sein, eine Quelle persönlichen Erfolgs und sozialer Anerkennung, aber auch von emotionaler Belastung und dem Risiko zu scheitern. Deshalb gehe es eher darum, ihnen zu etwas mehr Ausgewogenheit zwischen Berufs- und Privatleben zu verhelfen. Es könne jedoch das Wohlbefinden verbessern, die traditionellen Männlichkeitsvorstellungen zu lockern und zudem die Widerstandskraft der Männer zu stärken.

Die Forscher legten den Versuchsteilnehmern verschiedene Fragebögen vor und erfassten dabei, wie stark sie sich an männlichen Rollennormen orientierten, etwa wie wichtig ihnen Status oder Tüchtigkeit waren und ob sie eher „antiweiblich“ eingestellt waren. Zudem ging es in einem der Fragebögen darum, wie die Männer Depressionen beurteilten, ob sie darin etwa eine typische „Frauenkrankheit“ sahen und es für unmännlich hielten, selbst an einer Depression erkrankt zu sein (Selbst-Stigmatisierung). Außerdem erhoben die Wissenschaftler, wie lange die Depression vor der Therapie unbehandelt geblieben war – im Durchschnitt waren das 3,7 Jahre, in Einzelfällen erheblich mehr.

Die Auswertung zeigte außerdem, dass Männer mit Depressionen keine homogene Gruppe seien, berichten die Forscher. Vielmehr kristallisierten sich drei Gruppen heraus. Bei einer Gruppe zog eine geringere Orientierung an herkömmlichen männlichen Rollenvorgaben ein geringeres Risiko für psychische Probleme nach sich, aber nur dann, wenn dies mit einem mittleren Maß an beruflichen Ambitionen einherging. Die zweite Gruppe: Genauso depressionsgefährdet waren Befragte, bei denen die traditionelle Rollenorientierung nicht ausgeprägt war, ebenso wenig ihre beruflichen Ambitionen. Am günstigsten für ein geringes Depressionsrisiko bei Männern ist offenbar die folgende Konstellation: ein mittleres Maß an beruflichen Ambitionen, eine ausgeprägte Fähigkeit, beruflichen Stress zu meistern und eine geringe Orientierung an herkömmlichen Männlichkeitsvorstellungen – wie bei der dritten Gruppe.

Quellen
  • Psychologie heute 09/16
  • Psychologie heute 05/20
  • Reinhold Kilian u. a.: Masculinity norms and occupational role orientations in men treated for depression. PLOS ONE, 2020. DOI: 10.1371/jounal.pone.

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