Die gefühlte Machtlosigkeit in der Coronakrise ähnelt einem Depressionserleben. Doch wie gelangen wir gestärkt wieder aus diesem heraus?
Noch bis vor der Krise wähnten wir uns im Besitz unendlicher Optionen zur Gestaltung unseres Lebens. Alles schien möglich. Das Coronavirus ist eine radikale Kränkung dieser Allmachtsphantasien und dem Wunsch, alles im Griff und unter Kontrolle zu haben. Es ist der Knockout unseres Kontrollsystems und beschert uns eine Ohnmachtserfahrung, wie sie die meisten Menschen noch nicht erlebt haben. Die kränkende Beschneidung unserer Möglichkeiten wurde zu Beginn der Krise lediglich dadurch abgefedert, dass alle Menschen den gleichen Einschränkungen ausgesetzt waren. Die Ohnmachtserfahrungen ähneln dem Erleben in der Depression. Wir erleben momentan: Wir können nicht mehr, wie wir wollen.
Aus der Allmacht in den neuen Alltag
Wenn wir mit Menschen sprechen, wird häufig deutlich, wie schwierig die Adaptation an den neuen Alltag ist. Wir spüren, dass es nicht mehr so wie früher ist und es auch in Zukunft nicht mehr so wie früher sein wird. Dies bedeutet, dass wir die neue Normalität noch nicht kennen. Doch nichts ist so schwierig wie Veränderung. Durch die Coronakrise sind Menschen generell dazu gezwungen, sich an neue Umstände anzupassen und sich auch mit früher gesetzten Idealen auseinanderzusetzen. Zugleich weckte der Lockdown Sehnsüchte, aus dem immerwährenden, schnelldrehenden gesellschaftlichen wie auch persönlichen Hamsterrad auszusteigen. Die Sehnsucht nach einer kollektiven Abbremsung und Ruhigstellung zeigt, wie sehr Menschen „am Rad gedreht“ und sich in Überforderungen hineinmanövriert haben. So wie wir uns momentan in Abstand üben müssen, sollten wir auch in einem angemessenen Abstand unsere Werte, Ziele, unser Leben neu bedenken.
Wege aus der Corona-Depression
Eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Risiken und Kränkungen, die diese Krise mit sich bringt, hilft zwar nicht zurück in die Allmacht, aber heraus aus der Ohnmacht zu kommen. Hierzu können folgende sechs Wege, die aus einer Depression herausführen, hilfreich sein, zumindest wieder etwas Kontrolle zurück zu erlangen.
1. Entthronung der Ideale statt Festhalten an allerhöchsten Ansprüchen
Bisher glaubten wir unbewusst an das Versprechen der Möglichkeit einer paradiesischen Erfüllung unseres Allmachtanspruchs. Just do it! Auf der einen Seite führt das permanente Bestreben nach umfassender Selbstverwirklichung unweigerlich zu Überforderung, während auf der anderen Seite jede Begrenzung in diesem Bestreben als Kränkung erlebt wird. Die Coronakrise, die als ultimative Begrenzung angesehen werden kann, zwingt uns daher in die Auseinandersetzung mit den eigenen Idealen, was die Voraussetzung für den Weg aus der Misere angesehen werden kann. Alte Muster sollten überdacht und losgelassen werden. Eine ehrliche, offene Auseinandersetzung mit sich selbst ist der Anfang, um aus der depressiven Enge herauszutreten. Die Coronakrise setzt die Spielregeln neu, nach denen wir uns ausrichten müssen und ist ein Lehrstück darin zu akzeptieren, dass wir nicht alles in der Hand haben.
2. Wertschätzung kleiner Erfolge
Durch den veränderten Blick auf das, was realistisch betrachtet machbar ist, kann ein seelischer Umbau in Gang gesetzt werden und eine Wertschätzung kleiner Erfolge gelingen. Einschränkungen werden dann nicht nur als umfassende Kränkung gesehen, sondern als Anstoß, neue Ziele anzuvisieren, in die es sich zu investieren lohnt.
3. Schweigen ist Silber, Reden ist gold
Indem wir über unsere Gefühle sprechen und sie beschreiben, gewähren wir anderen Einblick in unser Seelenleben, was bei Depression zu Heilung führen kann. Ebenso sollten wir auch in der derzeitigen Coronakrise wieder in einen fruchtbaren Austausch mit anderen kommen, indem wir über Dinge sprechen, die uns schwerfallen. Dies ermöglicht Begegnungen, die heilsam sein können. Über sein Befinden zu sprechen, ist der erste Schritt auf dem Weg dazu, wieder tätig zu werden. Trotz Maske sollten wir über Schwierigkeiten reden, die die Krise mit sich bringt, aber auch über Ideen, die entstehen, wieder herauszutreten. So kann es gelingen, die Verantwortung für das eigene Tun zurückzuerlangen und vielleicht – trotz erheblicher finanzieller Einbußen – die Verantwortung nicht komplett an staatliche Institutionen, die Politik oder die ’anderen‘ zu delegieren.
4. Prioritäten setzen und Sinnfindung im Alltag
Es lohnt sich, etwas zu tun, statt davor zu kapitulieren, nicht alles zu schaffen. Das selbstzerstörerische Alles-oder-nichts-Prinzip kann mit Hilfe eines Reflexionsprozess aufgelöst werden. Was ist wirklich wichtig und von welchen Ansprüchen oder Aufgaben kann man sich kurz- und langfristig verabschieden? In der Coronakrise haben viele Menschen durch die erzwungene Reduktion ihres Handlungsspielraum eine Verengung ihres Lebensraums auf einen kleinen Kreis erlebt. Bei allen Schwierigkeiten erlebten viele diese Verengung auch als eine Chance, den Blick auf das zu richten, was trägt und von persönlicher Bedeutung ist. Die Krise kann so helfen, den Blick wieder auf das zu fokussieren, was wichtig ist, sich zwar nicht unbedingt leicht, aber dafür richtig anfühlt.
5. Den Weg zurück ins aktive Leben finden
Wieder Lust und Drang zu verspüren, tätig zu werden, bedeutet einen wichtigen Schritt raus aus dem Schmoren im eigenen Saft. Das beginnt schon beim Aufstehen. Einfach machen – könnte ja gut werden! Menschen in der Depression müssen aufs Neue lernen, dass jeder Weg mit einem ersten Schritt beginnt. Sich verändern und anpassen zu müssen, braucht Zeit und Einübung. Auch wenn das Homeoffice nicht direkt gelingt, so haben doch viele Menschen wie auch Firmen bemerkt, dass man vieles lernen kann, wenn man dranbleibt. Es ist vielleicht nicht direkt fehlerfrei, aber es ist ein Anfang. Die Krise ermöglicht einen Schulterschluss bei vielen Menschen, die sich gemeinsam auf Neues einrichten müssen. Zu merken, dass nicht alle perfekt sind, andere weder perfekt gestylt an Home-Office-Meetings teilnehmen, die Kinder zwischendurch auf der Gitarre spielen oder aber viele auch anfängliche Schwierigkeiten mit den digitalen Anforderungen haben, kann ebenso heilsam sein, wie die Akzeptanz des Unperfekten und das darüber Sprechen.
6. Hinwendung und Öffnung zur Welt
In einer Depression ist oft der Blick verengt, sodass nur noch das gesehen wird, was nicht machbar ist. Im Zuge des (Selbst-)Behandlungsprozesses ist es wichtig, den Blick jenseits der Symptome schweifen zu lassen und auf Erkundung zu gehen. Dies lenkt die Energie wieder nach außen. Viele Menschen spüren derzeit, wie wichtig es ist, sich wieder der Welt zu öffnen und sich trotz Virus und allen Unwägbarkeiten wieder den Gefahren des Lebens zu stellen. Depressive Menschen schützen und wappnen sich gegen alles, was von außen das Kleine bedrohen könnte. Darin zu verharren führt jedoch zu einer persönlichen Stilllegung. Die Tendenz, aus der kollektiven Ruhigstellung heraus zu wollen, ist notwendig, um wieder in eine (neue) Entwicklung zu kommen.
Quellen
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Langebartels, Birgit (2019): Leben im Leerlauf – Die verborgene Logik der Depression verstehen. Wege aus der Ohnmacht ISBN-13 : 978-3407865717, Beltz Verlag
- Psychologie Heite 08/2020