Scheitern und Misserfolg

Misserfolg war noch nie so geächtet wie in unserer digitalen Optimierungsgesellschaft. Sogar die berühmte Nike-Werbung „Just do it“ suggeriert uns, dass wir uns nur ausreichend anstrengen müssen, um erfolgreich zu sein. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass Misserfolg nur eine Folge von mangelnder Disziplin und Fleiß ist und nichts mit Glück, individuellen Talenten und z.B. Förderern zu tun hat. Sicherlich ein Trugschluss. Aber was ist Erfolg bzw. Misserfolg eigentlich und was passiert im Individuum? Könnten wir Misserfolg nicht auch als eine Chance sehen?

Die psychischen Auswirkungen von Misserfolg

Wie grundlegend wichtig die Kategorien von Erfolg oder Misserfolg für uns alle sind, zeigen uns die Folgen für die Psyche. Wenn sich Erfolgserlebnisse einstellen, hat es ganz unterschiedliche Wirkungen auf den inneren Menschen. Zu wenig Erfolg kratzt am Ego und senkt das Selbstwertgefühl. Erringt man ihn, macht er uns selbstbewusst oder beflügelt, man könnte sogar sagen, zu viel davon macht selbstherrlich, ja, er kann einem ziemlich zu Kopf steigen. Erfolg ist die Resonanz unseres Selbst in der Welt, und zwar unseres gestaltenden und wirkenden Selbst.

Stellt sich Misserfolg ein, neigen wir nicht nur dazu, unsere Fähigkeiten infrage zu stellen – sondern oft auch uns selbst. Misserfolgserlebnisse können mindestens so dramatisch sein wie Erfolgserlebnisse. Nicht der zu sein, der man sein möchte, führt zur Verkleinerung und Verkümmerung des Selbstwertgefühls bis hin zu Depressionen. Eine der frühesten empirischen Untersuchungen, die sich mit den Auswirkungen von Misserfolg beschäftigt hat, ist die berühmte soziografische Pionierstudie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ aus dem Jahr 1933 von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel. Darin zeigten die Autoren für den kleinen Arbeiterort in der Nähe von Wien, wie strukturelle Langzeit-Arbeitslosigkeit die Betroffenen „abstürzen“ ließ. Je extremer die Fallhöhe von der Zeit vor der Arbeitslosigkeit in die Arbeitslosigkeit war, desto schlechter ging es den Betreffenden, desto stärker prägten Resignation, Hoffnungslosigkeit und Alkoholismus ihr Leben.

Erfolg am Anfang: Eine reine Anpassungsleistung

Das Erste, was wir in diesem Leben lernen, ist, dass Erfolg etwas ist, worüber wir nicht selbst entscheiden. Von den ersten Schritten an wird das, was wir tun oder lassen, kritisch beäugt, gelobt oder getadelt. Und so wissen wir bald, was in den Augen der Mutter oder der Eltern Erfolg ist – und was Scheitern. Erfolgreich zu sein bedeutet eine sehr lange Zeit in unserer Biografie, eine reine Anpassungsleistung zu erbringen. Was sich anhört wie eine Entmündigung von Tag eins unseres Lebens an, ist evolutionär gesehen höchst sinnvoll. Zu lernen, es der Mutter nachzutun, sichert dem Kind das Überleben. Wenn wir es richtig machen, ernten wir Anerkennung und Bestätigung, die uns ermutigt, den nächsten vieler Schritte zu tun, an deren Ende die individuelle Autonomie steht.

Aber auch außerhalb der Mutter-Kind-Beziehung setzt sich dieses außengeleitete Belohnungssystem fort. Wir bekommen Zensuren und Beurteilungen von Pädagogen und Lehrern: So ist es richtig, so ist es falsch. Erfolg ist von Anfang an vorgegeben, an unsere Gabe geknüpft, Fremderwartungen zu erfüllen, auch wenn wir diese bald mit solchen ergänzen, die wir an uns selbst stellen. Und dann ist da noch die bürgerliche Gesellschaft, die mit einem ganzen System aus Status, Prestige und Lebensstil auf uns wartet, die uns bald sagt: So lebt man erfolgreich – und so eher nicht.

Zu diesem außengeleiteten Erfolgsverständnis hat sich aber längst ein zweites hinzugesellt. Im Zeitalter des modernen Individualismus ist nicht mehr nur der erfolgreich, der sich anpasst, sondern wer aus sich selbst „etwas macht“. Heute ist Selbstverwirklichung das Ziel. Und ein Zweites lässt sich beobachten: das Erfolgsgelände hat sich gleichsam ausgedehnt. Heute wird unter Erfolg nicht nur materielles Zielerreichen verstanden, sondern er erstreckt sich auf alle Bereiche des Lebens. Erfolg beschränkt sich nicht mehr nur auf den alten beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg, sondern er wird zur Lebenskunst der gelungenen Entfaltung der eigenen Anlagen und des Eingehens erfüllender Beziehungen zu anderen, zu Partnern und Freunden – kurz: Er umfasst das ganze Leben.

Oft wird gepriesen, dass die Entdeckung eines innengeleiteten Erfolgsverständnisses  den Menschen befreie. Es entsteht aber auch ein ziemlicher Erfolgsdruck, denn es ist  anstrengend, „sein Ding zu machen“ – und frustrierend, wenn man es nicht schafft. Außerdem: Wenn, wie in unserer individualistischen Ära, Erfolg an das Vermögen gekoppelt ist, sein Leben selbst zu gestalten, dann wird Misserfolg nicht länger als „Pech“ empfunden, sondern als selbstverschuldet. Scham ist die Folge – und Enttäuschung.

Die digitale Kultur: mehr Außenleitung, mehr Frust

Wir leben heute in digitalen Zeiten, in denen uns eine alles durchdringende Feedbackkultur perma­nent auf Erfolg abcheckt – und erst dadurch zu immer mehr Misserfolgserlebnissen führt. Das liegt zunächst daran, dass sich sehr viele Erfolgskriterien in unserer Cybergesellschaft quantifiziert haben. In der digitalen Kultur wird immer mehr vermessen, geratet und gerankt. Fitness-Armbänder messen, wie viel Schritte wir am Tag machen, wie gesund oder ungesund wir leben; Amazon zeigt uns den Verkaufsrang unserer letzten Veröffentlichung; wir checken die Follower-Zahlen unserer Videos, die Likes bei Facebook; Google Analytics zeigt uns, wie viel Klicks die Website jede Woche hat. Aber all diese gesammelten Daten sind nicht nur deskriptiv, sondern gewinnen schnell eine normative Komponente. Denn immer mehr dieser individuellen Daten werden mit denen anderer verglichen – Beispiel smart scales. Das sind Personenwaagen, die sich mit einer Community verbinden lassen. Wie entwickelt sich mein Vorhaben abzunehmen im Vergleich zu anderen Leidensgenossen? Der Vergleich, nicht nur des individuellen Körpergewichts, wird schnell zum Wettbewerb – und die bange Frage an sich selbst regt sich in vielen Feldern: Wo stehe ich? Es liegt in der Natur der Sache, dass wir uns bei all den Virtuosen der Netzwelt bald eher bei den Verlierern wiederfinden als bei den Gewinnern. Oder nehmen wir das Beispiel von Musikclips im Netz. Zwar kann heute jeder seinen persönlichen Rap selbst produzieren und einstellen, doch zum Star macht einen das noch lange nicht. Im Gegenteil: Wenn man sieht, dass Bushido 30 Millionen Klicks hat, machen einem die eigenen 300 Follower nicht klar, wie toll man ist, sondern wie mickrig. Es ist paradox: Wir peilen eine höhere Selbstsicherheit durch die Flucht in messbare, sichere objektive Größen an, aber das Ranking zeigt am Ende weit eher auf, was uns zur „number one“ fehlt, als dass wir uns mit Rang 214 097 zufriedengeben.

Scheitern ist selbstverschuldet

Andreas Bernard, Kulturwissenschaftler an der Leuphana-Universität Lüneburg, nimmt die vielen Gesundheits-Apps als Beispiel, wie vergleichende Selbstvermessung zu einer Spielart eines Scheiterns wird, das Menschen als selbstverschuldet empfinden. „Wenn ich einen Burger esse, wird sofort mein Gesundheits-Score verschlechtert, wenn ich zehn Minuten jogge, wird er besser. Man muss jedoch kein erfahrener Mediziner sein, um zu sagen, es ist nicht so einfach. Erstens ist Gesundheit höchst individuell, und zweitens kann man keine so klaren Ursache-Wirkung-Regulationen einführen. Aber diese Techniken tun das.“ Er zieht den Schluss: „Das führt dazu, dass der Aspekt der Eigenbeteiligung immer bedeutender wird. Krankheit wird so zu etwas Selbstverschuldetem, wo sie früher noch ein verhängnisvolles Schicksal war. Das bringt uns unter einen erhöhten Druck.“

Wir fügen uns dennoch, weil in einer Welt der Unsicherheit scheinbar nur noch der messbare Erfolg Sicherheit gibt – und leiden darunter. Und das immer stärker. Denn wenn das Streben nach hohen Maßstäben zu häufig schiefgeht, wird es zur Belastung, zumal dann, wenn die Differenz zwischen Erreichtem und Erstrebtem von den Betroffenen negativ bewertet wird. Die US-amerikanische Psychologin Brooke Mistler nennt dies „Diskrepanz­erfahrung“ und hat in ihren Studien gezeigt, dass Diskrepanzerleben bei klinischen Perfektionisten am stärksten ausgeprägt ist. Es scheint, als litten in unserer Optimierungsgesellschaft immer mehr an dem Problem, die eigenen überhöhten Maßstäbe nicht zu erreichen. Perfektionismus ist tatsächlich zu einer Volkskrankheit geworden.

Umgang mit Misserfolg

Was tun? Nils Spitzer, Psychotherapeut und Buchautor des Titels Perfektionismus überwinden, plädiert dafür, unsere eigenen extremen Bewertungsmaßstäbe radikal zu überprüfen. Er fragt: „90 von 100 Punkten in einer Prüfung erreicht zu haben mag, gemessen am Ideal der perfekten Prüfung, ein Misserfolg sein, aber wie haben die anderen Guten abgeschnitten? Und wie war der Klassendurchschnitt?“ Es gehe darum, die eigenen Bezugspunkte neu zu justieren. Und genauso darum, den eigenen Selbstwert immuner gegen Erfolg oder Misserfolg zu machen. Wie kommt man nur darauf, die ganze eigene Person von einem einzigen Misserfolg abhängig zu machen? Wird man durch eine Niederlage ein schlechter Tennisspieler? Wovon ist der eigene Selbstwert eigentlich noch abhängig? Es lohnt sich auch, die befürchteten Katastrophen nach einem Misserfolg kritisch zu prüfen: „Was ist denn wirklich passiert? – Hat man die Fallhöhe bei Misserfolgen verringert, dann kommt die Akzeptanz ihnen gegenüber oft von selbst. Es geht also um mehr Realismus, es geht darum aufzuhören, sich mit der ganzen Welt zu vergleichen. Viel besser noch als der Vergleich mit anderen, der nach wissenschaftlichen Studien einer Depression zuträglich sein kann, ist der Vergleich mit sich selbst bzw. früheren Leistungen. Wie habe ich dieses Mal im Vergleich zum letzen Mal abgeschnitten? Habe ich mich persönlich entwickelt? Bin ich objektiv besser geworden?

Natürlich steht am Anfang jedes Misserfolgserlebnisses immer auch die Selbstkritik. Und ja, es gibt natürlich auch den selbstverschuldeten Misserfolg. Zu wenig Disziplin, zu wenig Aufwand, zu wenig Fleiß, ohne den es bekanntlich keinen Preis gibt. Wenn man aber ehrlich behaupten kann, ich habe mein Bestes gegeben, und es hat dennoch nicht gereicht, dann gilt es, die eigenen Ziele zu überprüfen. Man kann versuchen, den Kampf um Realisierung zu intensivieren. Wie beispielsweise Emmanuel Macron, der gleich dreimal Aufnahmeprüfungen an Hochschulen nicht bestanden hat, dennoch nicht aufgab und es schließlich bis zum französischen Staatspräsidenten brachte. Ja, Misserfolg kann auch Kräfte freiwerden lassen. Wenn man aber erkennt, dass es nur vergeudete Zeit ist, in das Erreichen eines unerreichbaren Zieles zu investieren, dann ist die Zeit für die (Selbst-)Akzeptanz gekommen – und für Plan B.

Befreiung ist das Stichwort. Befreiung von der Tyrannei von Erfolgsbildern, die wir uns übergestülpt haben, ohne eigentlich zu wissen, warum. Und dann? Nach der Befreiung kommt nicht die Resignation, sondern die Suche nach neuen Werten, für die es sich aufzubrechen lohnt. In der „Akzeptanz- und Commitmenttherapie“ wird genau das eingeübt: Menschen, die Rückschläge erlitten haben und dadurch ausgelöst durch schwere Krisen gegangen sind, wird Akzeptanz vermittelt, aber gleichzeitig auch eine Selbstverpflichtung für neue Ziele. Plötzlich erkennen viele, dass erst durch den Misserfolg der eigene Radar wieder in Bewegung kommt und nach neuen Werten sucht, für die man antritt. Denn immer wenn etwas endet, fängt etwas Neues an. So gesehen gibt es keinen Misserfolg, sondern nur Lernen und Neuausrichtung. „Dem Regime der Zahlen zu entkommen ist sehr schwer“, meint Steffen Mau, „zumal das digitale Eremitentum mit hohen Kosten verbunden ist.“ Dennoch sieht er einen Trend zu mehr Selbstermächtigung der Nutzer digitaler Plattformen, mehr Kontrolle und Transparenz. Andreas Bernard rät zum Ausstieg aus der Quantifizierungsspirale. „Wohlbefinden zu erlangen heißt nicht, Tag für Tag die Quantifizierungseinheiten zu erlangen“, sagt er, „sondern den Mut aufbringen, jenseits der Techniken Wohlgefühl in sich zu registrieren.“ Mehr auf sich selbst zu hören, mehr Eigensinn zu entwickeln – das ist der Weg, der aus dem metrischen Misserfolg führt.

Entscheidend ist letztlich, die Ambivalenzen des Lebens anzunehmen und die Perspektive zu wechseln, auch sehen zu lernen, was erfolgreich ist. Denn tatsächlich, wenn Menschen ihr Leben bilanzieren, kann dieselbe Aufzählung immer beides sein: Beweis für ein erfolgreiches Leben oder für sein Gegenteil. Je nach Maßstab und Anspruch. Was sind die Parameter? Geld? Karriere? Prestige? Oder das auszuleben, was in der eigenen Persönlichkeit an Möglichkeiten und Talenten angelegt ist und schlummert? Viele alte Menschen, die auf ein ganzes Leben zurückblicken, sind sich da einig: Selbstentfaltung, die Freiheit, die jeder von uns hat, auch zu nutzen verstehen, sich eine Aufgabe gestellt und sie erfüllt zu haben, einen Platz in der Welt gefunden und ihn zur Heimat umgebaut zu haben – das ist Erfolg.

Erfolg ist „schmiedbar“, zu einem gewissen Teil, ein Quantum Glück braucht man aber auch. Was nicht durch Ehrgeiz, Fleiß oder Disziplin zu schaffen ist, ist jenes Glück, auf seinem Lebensweg Menschen zu treffen, die die Größe und das Schöne, das in jedem von uns steckt, erkennen und bestätigen, die uns spiegeln, die uns lieben: Das ist wohl das größte, wichtigste und zeitlose Erfolgserlebnis, das unser Leben bereithält. Aber ein gelungenes Leben ist nie Leben ohne Scheitern, sondern eines, das Niederlagen akzeptiert und sie integriert. Zu seinem Gelingen gehört die Akzeptanz des Misserfolgs. Das ist vielleicht die schwierigste Lektion. Am Ende ist ein gelungenes Leben immer auch gelungenes Scheitern.

 

Quellen
  • Andreas Bernard: Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2017
  • Marie Jahoda u. a.: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1975 (1. Auflage; Erstveröffentlichung: 1933)
  • Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Suhrkamp, Berlin 2017
  • Nils Spitzer: Perfektionismus überwinden. Müßiggang statt Selbst­optimierung. Springer, Berlin 2017
  • Psychologie heute 19/05 – Leben als gelungenes Scheitern

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