Statuskämpfe machen viele Menschen anfälliger für Stress und seelische Probleme. Doch Leistung ist gar nicht so einfach zu messen.
Die Zehnjährige lernt für die nächste Klassenarbeit, und die Note muss sehr gut sein. Die nächste Deadline sitzt einem im Nacken, und der Text muss großartig werden. Der Paketbote hetzt durch die Stadt, um bis 18 Uhr seine verordnete Tour zu schaffen. Und dabei ist klar: Andere bekommen mit, was wir wann und wie geschafft haben. Wir leben in einer Gesellschaft der Leistung(sbesten), einer „Meritokratie“.
Und diese befindet sich nach Meinung des Berner Psychiaters Gregor Hasler in einer Krise – allerdings weniger in einer Leistungs-, als vielmehr in einer „Resilienzkrise“. Resilienz definiert Gregor Hasler als „unsere Widerstandskraft gegen Stress und psychische Belastungen“. Und die nimmt offenbar ab: „Mehr Menschen als früher seien anfälliger für seelische Probleme und Erkrankungen“. Auch Zahlen legen es nahe: In Deutschland beschweren sich 40 Prozent der Vollzeitbeschäftigten über einen ständig wachsenden Druck, möglichst schnell möglichst viel Leistung bringen zu müssen.
Objektiv sind wir nicht stärker belastet
Wie der Begriff Resilienzkrise nahelegt, geht es aber dabei nicht um äußere Belastungen. Die Menschen der westlichen Welt seien de facto heute nicht mehr davon ausgesetzt als die Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – samt Weltwirtschaftskrise, zweier Weltkriege und einem Staat in Trümmern. Als einen drastischen Beleg führt Gregor Hasler die Folgen der Finanzkrise 2008 an, nach der die Arbeitslosigkeit zwar anstieg, jedoch anders als nach der Weltwirtschaftskrise 1929 in Deutschland nie über zehn Prozent. Auch musste niemand hungern. „Doch der gefühlte Stress und die Depressionsrate waren immens“, sagt Hasler. Es muss also andere Gründe geben für die Zunahme der Belastungsgefühle.
Wer den Kern der Krise verstehen will, findet bei Nina Verheyens Recherchen in der Geschichte eine Antwort. Die Kölner Historikerin setzt bei unserem Verhältnis zur Leistung an. Zunächst stellt sie klar: Leistung existiert nicht per se, sondern es sind unsere subjektiven Bewertungen und Zuschreibungen, die Handlungen zu einer Leistung machen. Sobald diese einmal als solche zugeschrieben worden sei, werde sie „real und mächtig“. Jede Leistung sei eine Frage der Perspektive.
Effizienzdenken
Viele von uns nehmen an, Leistung sei eine feste Größe, die aus individuellen Fähigkeiten resultiere, eine Größe „individueller Kraftanstrengung“, die sich wie in der Physik objektiv messen, linear steigern und auf Einzelpersonen zurückführen lasse. Die Historikerin Verheyen weist darauf hin, dass sich dieses moderne Leistungsverständnis maßgeblich im 19. Jahrhundert herauskristallisierte. Dafür verantwortlich zeichneten zwei einflussreiche Kräfte: Zum einen setzte sich in den Industrieunternehmen eine mechanische Definition von Leistung durch, die als „Arbeit pro Zeiteinheit“ verstanden wurde. Sie galt nicht nur für Maschinen, sondern auch für Menschen. Schon damals ging es also um Effizienz. Unternehmer wünschten sich einen sparsamen und langfristig wirkungsvollen Einsatz aller Kräfte in einem Betrieb.
Zum anderen waren es die Naturwissenschaftler, die das moderne Leistungsverständnis begründeten. Physiologen übertrugen physikalische Leistungsgesetze auf den Menschen und entwickelten die Vorstellung, dass dessen Organismus einem Motor gleiche. Genau wie sich die Pferdestärken eines Motors exakt messen ließen, könne man auch die Leistung eines Menschen präzise und objektiv ermitteln.
Dieses im 19. Jahrhundert entwickelte mechanisch geprägte Leistungsverständnis wurde von Anfang an gekoppelt an die soziale Struktur der Gesellschaft, berichtet Verheyen. Wer viel oder gar Großes leiste, so lautete das Versprechen, das bis heute gilt, könne sich einen hohen Status selbst erarbeiten und zu einer tragenden Säule der Meritokratie avancieren. Leistung werde gesellschaftlich und finanziell belohnt, unabhängig von Herkunft, Ansichten oder Geschlecht. Und damit Leistung belohnt werden kann, muss sie gemessen und verglichen werden. Deshalb kennen tendenziell alle Menschen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen und beiderlei Geschlechts die Leistung, als eine vermeintlich objektive Größe, die man erreichen kann oder auch nicht.
Grenzen der Messbarkeit
Doch mit welcher Philosophie, mit welchen Parametern wird heute die Leistung des Einzelnen bewertet? Und wie überprüft man eigentlich Leistungen, etwa die einer Pflegekraft, einer Erzieherin? „Genau da fängt das Problem an“, sagt Nina Verheyen, „diese beiden Berufsgruppen sind Leistungserbringer par excellence, aber ihre Leistung entzieht sich der Quantifizierung, und sie produzieren auch keine unmittelbar sichtbaren wirtschaftlichen Gewinne.“ So besetzen sie in der Hitliste der Gehälter Plätze im hinteren Drittel, während die Spitzengehälter offenbar grenzenlos in Höhen enteilen, die, „im Vergleich nicht zu rechtfertigen sind – jedenfalls nicht über Leistungsunterschiede, obwohl genau das suggeriert und zur Legitimation herangezogen wird“.
Heutzutage werde von Mitarbeitenden zudem über das Messbare hinaus einiges mehr erwartet, was nicht ohne weiteres in Zahlen darstellbar sei, etwa Kreativität, Initiative, zeitliche und kognitive Flexibilität, Multitasking und hohe geistige Geschwindigkeit. Das heißt: Die Erwartungen an Beschäftigte sind breiter und vager geworden. „Diese Vorstellungen schließen persönliche Merkmale ein, die früher nicht Gegenstand von Leistungserwartungen waren.“ Emotionale Kompetenz und Stabilität beispielsweise werden oft und nicht immer bewusst mitbewertet, „dass man an der Arbeit nicht ausrastet“, wie der Psychiater Hasler es nennt, „sondern sich im Griff hat und ausgleichend handelt“.
Erfolg dank eigener Anstrengung?
Das Konzept der Leistung als feste und objektive Größe wird also zunehmend brüchiger, und zwar aus mehreren Gründen:
- „Menschliche Leistung lässt sich nicht wie die einer Maschine messen, weil es keine objektiven Bewertungsinstanzen und -kriterien gibt“, so Nina Verheyen. Die einflussreichsten Vertreter der Gesellschaft, also Politiker, Unternehmer und Arbeitgeber, Gewerkschaften, Verbände, Hochschulen oder Ministerien, legen fest, wer wie welche Leistung misst und was sie wert ist. Auch wir selbst bewerten Leistungen, etwa wenn ein Freund uns bittet, ihn zu empfehlen, und wir überlegen, ob wir das wollen. Und welche Leistung in welchem Kontext als wünschenswert gilt, bleibe immer Definitionssache.
- Es sei nicht möglich, ein einzelnes Produkt, Werk oder Ergebnis zweifelsfrei auf das Handeln einer einzelnen Person zurückzuführen. Arbeitsvorgänge aller Art seien viel zu eng miteinander verflochten.
- Das herkömmliche Leistungsverständnis suggeriert, dass die individuelle Leistung direkt an das Einkommen gekoppelt sei. Gustav Horn, Direktor des Wirtschaftsforschungsinstituts IMK, hält es für ein „Ding der Unmöglichkeit“, bei der heutigen vernetzten Arbeitsweise einzuschätzen, welcher Teil der Erlöse wem zuzurechnen sei.
- Glück und die „Rhetorik der Meritokratie“, wie es der US-Ökonom Robert Frank von der Cornell University ausdrückt, veranlassten die Erfolgreichen zu glauben, sie hätten sich ihren Erfolg ausschließlich durch ihre eigenen ausgeprägten Fähigkeiten und Anstrengungen verdient – was automatisch jene disqualifiziert, die genauso fleißig und smart sind, aber Pech hatten. Ein großer Schaden für die Gesellschaft, zumal Glück, wie Frank an vielen Beispielen deutlich macht, eine entscheidende Komponente jeder Leistung ist. Wer aber sein Glück kategorisch in der Erklärung seiner Leistung (und seines Erfolgs) ausblendet, schließt sich, so der Ökonom, zu einer neuen Schicht zusammen, die für andere keinen Platz mehr bietet.
Was wir heute unter Leistung und persönlichem Erfolg verstehen, tut uns nicht gut, zu diesem Schluss kommt der Psychiater Gregor Hasler. Denn das vermeintlich objektive Leistungsverständnis schaffe sehr subjektive psychische Welten und habe „große psychosoziale Folgen“: Wettbewerbsorientierung, Individualismus und – oft unerreichbare – Ansprüche an sich selbst werden dadurch zunehmend wichtiger. Mit der Folge, dass in der Gesellschaft der vermeintlich gleichen Chancen das Streben zunimmt, sich von anderen abzuheben.
Was es noch komplizierter macht: Leistung zu bringen ist eben nicht nur negativ, sondern nach wie vor auch eine Chance für Einzelne. Wer etwas erreicht, fühlt sich gut und ist motivierter. Erfolg ermöglicht den Aufstieg auf der sozialen Leiter und erlaubt es, sich Statussymbole zu leisten: Autos und Smartphones von den richtigen Herstellern, Markenkleidung, attraktive Urlaube oder bestimmte Jobs. Die Folge ist allerdings, dass Aufwärtsvergleiche noch weiter zunehmen. Tatsächlich belegen Studien genau das: Menschen vergleichen sich „nach oben“ und strengen sich dann – weil sie mithalten wollen – immer mehr an, um das Geld für die nötigen Statussymbole verdienen zu können. Damit können sie anderen zeigen, dass sie außergewöhnlich sind, etwas Besonderes. In diesem Versprechen, Status erlangen und erhalten zu können, liegt deshalb auch ein „Ich muss“. Denn leisten wir nach konventionellem Verständnis zu wenig, verlieren wir unseren Rang, können nicht mehr mithalten und gelten weniger oder nichts.
Es ist ein Widerspruch zwischen „Ich kann Leistung bringen, das lohnt sich und macht Freude“ und „Ich muss es aber auch, um meinen Status zu sichern und zu demonstrieren“. Dieser ist nicht so leicht aufzulösen, denn viele können tatsächlich nicht anders. Gregor Hasler zitiert eine Studie, derzufolge Statusangst in unserem Gehirn offenbar programmiert ist, weil wir von Natur aus darauf ausgerichtet zu sein scheinen, hohen Status attraktiv zu finden. Das Gehirn sei nicht willens, heißt es, Gesichter von Personen mit einem niedrigeren Status zu betrachten. Die Teilnehmer beachteten nur die Gesichter von Personen mit hohem Status, klar ablesbar an der Hirnaktivität.
Abstiegsängste
Beim Betrachten der statusniedrigeren Gesichter dagegen tat sich in den Gehirnen der Versuchsteilnehmer so gut wie nichts. Gleichzeitig enthüllte die Studie: Veränderungen der Statushierarchie führten zu einer starken zusätzlichen Aktivität des Stresssystems der Probanden. Offenbar, so Hasler, „können wir instabile Statushierarchien ganz besonders schlecht ertragen“. Zwar verspricht die moderne Meritokratie, „dass es für jeden Einzelnen leichter geworden sei, den ersehnten Status zu erhalten“. In der Realität aber sind Abstiegsängste – zum Beispiel laut einer 2018 erstellten Umfrage der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung – weit verbreitet, bis in die Mittel- und Oberschicht hinein, trotz Wohlstands, sinkender Arbeitszeiten und geringer Arbeitslosigkeit.
Hinzu kommt, dass es auch nicht guttut, den eigenen Status zu unterschätzen. Dies bringt Studien zufolge ein deutlich höheres Risiko mit sich, an psychischen Störungen zu erkranken, als bei Menschen, die ihren Status überschätzen. „Wie man seinen Status einschätzt“, sagt Hasler, „ist für die Resilienz von großer Bedeutung.“ Wer resilient genug ist, kümmert sich kaum darum, wie wertvoll andere seine Existenz finden. „Er verfügt über einen Innenraum, der ihn vor dem Zugriff des Statusdenkens schützt“, sagt der Schweizer. Doch Studien zeigen, dass der Panzer zwischen innen und außen dünner wird. Vor allem die US-Psychologin Jean Twenge belegt: Werte wie Einkommen, jugendliches Aussehen, materieller Wohlstand und sozialer Status – alles basierend auf Leistung – verdrängen traditionelle Werte wie innere Unabhängigkeit, stabile Moralvorstellungen, kulturell verwurzelte Sicherheit, soziale Zugehörigkeit, Gemeinschafts- und Familiensinn.
Individuelle Leistung als soziales Konstrukt
„Unser offizieller Status, die durchschnittliche Bewertung unserer Leistungen durch andere, gewinnt zunehmend an Bedeutung. Das belastet unsere Gesellschaft, weil Leistungs- und Statusdenken die Resilienz schwächen“, so Hasler. Folge: mehr gefühlter Stress, geringere mentale Leistungskraft, mehr psychische Störungen wie Depressionen. Außerdem sinken Kreativität und Spaß bei der Arbeit. Das konventionelle Leistungsverständnis frisst in heutigen Zeiten unsere Leistungsfähigkeit. Zu einem ähnlichen Fazit kommt auch Nina Verheyen. Der Stress, der heute so oft empfunden werde, sei im engeren Sinne eben nicht Ausdruck von purem Leistungsdruck. Dahinter stehen ihrer Meinung nach eher Profitstreben und der Zwang zur Vernetzung sowie zur Selbstoptimierung.
Nina Verheyen wirbt vor diesem Hintergrund für ein anderes Verständnis von Leistung: „Wir dürfen nicht länger so tun, als sei persönliche Leistung objektiv und individuell messbar und als seien Einkommensunterschiede das Ergebnis von Leistungsunterschieden. Es geht um eine Sensibilisierung und um die Erkenntnis, dass individuelle Leistung ein soziales Konstrukt ist.“ Dies ist nicht einfach, weil wir ständig Leistungen Einzelner bewerten, ohne genau zu wissen, wie sie zustande gekommen sind. Ein Personalchef müsste im Einzelfall nachfragen, ob ein Bewerber gute Zeugnisnoten ohne Hilfe erreicht hat. Wir beurteilen zwar, dass der Service im Restaurant nicht gut war, aber den Grund kennen wir nicht. Wir denken nicht darüber nach, ob der Paketbote womöglich wegen sehr eng getakteter Planung und Staus zu spät geliefert hat. Wer solche Faktoren jedoch berücksichtige, könne klüger urteilen und trage zu eindeutigeren und weniger fehlerhaften Leistungsbeurteilungen bei.
Quellen
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Robert H. Frank: Ohne Glück kein Erfolg. Der Zufall und der Mythos der Leistungsgesellschaft. Dtv, München 2018
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Gregor Hasler: Resilienz: Der Wir-Faktor. Schattauer, Stuttgart 2017
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Nina Verheyen: Die Erfindung der Leistung. Hanser, Berlin 2018
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Psychologie heute 01/19