Wir beurteilen Bücher nach ihrem Deckel und Menschen nach ihrem Aussehen. Das kann man verurteilen – und sich trotzdem nicht recht davor schützen. So stark ist die Macht des ersten Eindrucks. Als Charles Darwin bereit war, zu seiner großen Reise mit dem Forschungsschiff Beagle aufzubrechen, befand ein Kapitän der Royal Navy, dass ein Mensch mit einer solchen Nase, wie sie Darwins Gesicht ziere, unmöglich wissenschaftlicher Begleiter einer so wichtigen Unternehmung sein könne. Diese Nase sei ein untrügliches Zeichen für „fehlende Zielstrebigkeit und Energie“. Im 19. Jahrhundert stützte sich so manches Urteil über den Charakter eines Menschen auf die pseudowissenschaftliche Lehre der Physiognomik. An Kopfform, Stirnhöhe, Mundbreite oder Nasenformat wollte man Eigenschaften wie etwa Willenskraft, Charakterstärke und Intelligenz ablesen. Die Physiognomik als Charakterkunde ist wissenschaftlich längst ad acta gelegt. Die Größe einer Nase mag unser Urteil nicht mehr so sehr beeinflussen, aber über Sympathie oder Antipathie, über Ablehnung und Akzeptanz entscheiden immer noch unbewusste, unreflektierte und vor allem sehr schnell ablaufende Prozesse in unserem Kopf. Studien zufolge benötigt der erste Eindruck allenfalls 100 Millisekunden, um sich zu manifestieren. Danach steht für uns nahezu unveränderlich fest, wie wir eine Person einschätzen, wer uns als attraktiv, sympathisch oder vertrauenswürdig erscheint und wer nicht.
Was prägt diesen ersten Eindruck?
Beim ersten Eindruck sind sensorische Reize wichtiger als Worte. Gerüche, Körpersprache, Gestik und Mimik sind dabei von entscheidender Bedeutung. Kein Wunder, denn in 100 Millisekunden lässt sich schließlich nicht viel Überzeugendes sagen. Angeblich hängt allein die Wirkung unserer Worte zu 38 Prozent von der Stimme, also von Tonfall, Betonung und Artikulation ab; 55 Prozent machen Gestik und Mimik aus und nur 7 Prozent beeinflusst der Inhalt selbst. Diese Zahlen gehen auf Studien des US-Psychologe Albert Mehrabian aus dem Jahr 1967 zurück. Allerdings sind sie wissenschaftlich höchst umstritten: Die Probandengruppe umfasste damals gerade einmal 20 Studenten. Dass sensorische Reize unmittelbarer wirken als Worte, gilt jedoch als gesichert. Die Sprache der Augen kommt aber oft zu kurz. Dabei ist sie ein Spiegel der Seele und verleiht uns große Wirkung: Wer redet, blinzelt häufiger als einer, der schweigt. Ist das umgekehrt, kann man davon ausgehen, dass sich der Zuhörer langweilt. Der starre, intensive Blick dagegen wird als Zeichen von Stärke und Charisma gewertet. Der Schauspieler Michael Caine soll jahrelang geübt haben, um bei Naheinstellungen kaum zu blinzeln.
Gibt es für den ersten Eindruck keine zweite Chance?
Einer der Pioniere der modernen Sozialpsychologie, Solomon Asch, ließ sich bereits vor 70 Jahren von der Psychologie des ersten Eindrucks faszinieren. Ihm fiel auf, wie wenige Informationen wir benötigen, um über Unbekannte zu urteilen. Ein Blick, ein paar Worte reichen, und wir glauben, einen Fremden zu kennen. Vor unserem inneren Auge entstehe „mit beeindruckender Geschwindigkeit und großer Leichtigkeit“ ein klares, plausibles Bild, notierte Asch 1946. Inzwischen taucht der Spruch „Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance“ wie selbstverständlich in Bewerbungsratgebern und in Personalerkreisen auf und wurde in zahlreichen Experimenten wissenschaftlich geadelt. Zum Beispiel zeigte die amerikanische Sozialpsychologin Nalini Ambady in einer Serie von Experimenten, dass schon minimale Verhaltensausschnitte ein Maximum an Urteilssicherheit bringen können. Sie führte ihren Testpersonen nur wenige Sekunden lange Filmclips von Menschen vor, deren berufliche Qualifikationen oder sonstige Performance beurteilt werden sollten. Und tatsächlich – Urteile, die auf dieser extrem schmalen Informationsbasis – dem flüchtigen ersten Eindruck – gefällt wurden, deckten sich in manchen Experimenten weitgehend mit sehr ausführlich und über lange Zeiträume erstellten Gutachten. Die implizite Botschaft der sogenannten thin slicing-Experimente war: Wozu großen Aufwand bei der Beurteilung von Menschen treiben, wenn diese doch schon in wenigen Sekunden ihren wahren Charakter oder ihre Befähigung für einen bestimmten Job offenbaren? Verlassen wir uns doch auf die Intuition, auf das sekundenschnelle Urteil – wird schon stimmen!
Schnell bedeutet nicht gleich zuverlässig
Auch der Paartherapeut John Gottman trug zum Glauben an die Macht des ersten Eindrucks bei. Er konnte anhand weniger kurzer Episoden, Signale und Gesten in der Interaktion von Paaren erstaunlich zuverlässig prognostizieren, ob und wann diese Paare sich trennen werden. Und schließlich schilderte der Journalist Malcolm Gladwell in seinem Bestseller „Blink!“ zahlreiche Beispiele für zutreffende Blitzdiagnosen. Schnellurteile seien eine Sache des Augenblicks, und sie seien in vielen Fällen oft den langwierig erstellten Gutachten von Experten überlegen, so Gladwells Fazit. Einige hundert Experimente später muss die Annahme revidiert werden, dass schnell auch gleich gut und zuverlässig ist. Wir können uns in Sachen Menschenkenntnis und Fähigkeitsdiagnosen nicht immer auf die Intuition verlassen. Eine Überprüfung vieler Experimente zeigte, dass komplexere Aussagen über Menschen wesentlich mehr Zeit erfordern, als die spektakulären Ergebnisse der ersten Experimente suggerierten. Auch ist die Fehlerquote bei schnellen ersten Urteilen umso höher, je anspruchsvoller das Persönlichkeitsprofil sein muss. Ob jemand wirklich kreativ, offen, kooperativ oder „schwierig“, akribisch oder kritisch ist, zeigt sich erst nach sorgfältiger Prüfung.
Gerade weil wir zu schnellen und meist unbewussten Urteilen über andere Menschen neigen, ist uns nicht klar, wie fehlerhaft und ungerecht diese Urteile oft sind. Sicher sind wir sehr wohl in der Lage, vieles im Gesicht des anderen zu lesen, wie der Ausdrucksforscher Paul Ekman herausgefunden hat. Wir „lesen“ die Basisgefühle, wie Angst, Wut oder Ekel, meist richtig. Manchmal erspüren wir sogar die politische Einstellung oder sexuelle Orientierung eines Menschen. Aber schon beim Erkennen von Lügen überschätzen wir unsere Intuition. Richtig problematisch werden Schnellurteile vor allem dann, wenn eine Reihe evolutionär „eingebauter“ Fehlerquellen unser Urteil trübt: So schreiben wir beispielsweise attraktiven Menschen öfter und meist völlig unberechtigt positivere Eigenschaften zu als anderen.
Der Sozialpsychologe Randall Colvin von der Northeastern-Universität in Boston zeichnete in einem wegweisenden Experiment auf, wie sich 30 Studenten zum ersten Mal miteinander unterhielten. Colvin wollte herausfinden, wie die Länge der Beobachtungszeit das Urteil beeinflusst, und schnitt deshalb das Material zu Filmclips unterschiedlicher Länge zusammen. Die kürzesten Versionen liefen fünf Sekunden, die längsten fünf Minuten. Dann bewerteten 300 Beobachter die gefilmten Personen. Der Maßstab für die Güte der Beurteilungen wurde vorab fixiert: Eltern, Freunde und auch die Gefilmten hatten (Selbst-)Einschätzungen abgeliefert. Schon nach fünf Sekunden beurteilten Colvins Probanden manche Eigenheiten der im Film gezeigten Studenten ziemlich gut. Ob jemand extravertiert, gewissenhaft, intelligent oder schlecht gelaunt ist, scheint einigermaßen leicht erkennbar zu sein. Etwas länger dauerte es, bis gute Laune, Neurotizismus, Offenheit und Verträglichkeit zugeordnet werden konnten. Hier sind die Hinweise im Verhalten offenbar weniger deutlich und teilweise widersprüchlich. Ob jemand neugierig oder emotional unausgeglichen ist, lässt sich nicht an der Nasenspitze ablesen. Nach einigen Minuten jedoch sind auch diese Merkmale halbwegs zu erkennen. Das heißt: Die groben Umrisse der Persönlichkeit eines Fremden schätzen wir offenbar schnell auf brauchbarem Niveau ein. Das ist aus Sicht der Evolutionspsychologie absolut sinnvoll, es schützt uns vor unliebsamen Überraschungen. Bevor wir entscheiden, ob ein neuer Bekannter unser bester Freund wird, sichern wir erst einmal unser eigenes Überleben. Uns interessiert: Wird uns jemand das Leben schwer machen? Neigt er zu heftigen negativen Affekten? Ist er berechenbar?
Auch David Funder, Professor an der Universität von Kalifornien in Riverside, räumt ein, dass der erste Eindruck oberflächlich ist. Aber er sei deshalb noch lange nicht nutzlos. Um den Wert unserer intuitiven Einschätzung von anderen zu begreifen, müssten wir uns nur einmal vorstellen, wir hätten diese Fähigkeit nicht. Wenn wir völlig unvoreingenommen und nicht-wertend anderen Menschen gegenüberträten, würde uns das weit zurückwerfen, meint Funder: „Der erste Eindruck kann lebensrettend sein. Es ist deutlich besser, eine Entscheidung aufgrund des ersten Eindrucks zu treffen, als eine Münze zu werfen.“ Doch es müsse uns bewusst sein, dass der erste Eindruck nur ein grober Anhaltspunkt ist. Das gilt vor allem auch für Liebesbeziehungen.
Der erste Eindruck kann also ein wertvoller Anhaltspunkt sein. Doch wir sollten ihn mit Vorsicht gebrauchen, schlussfolgert Colvin aus seiner umfangreichen Forschung. Unsere erste Vorstellung von anderen Menschen ist niemals vollständig, und manchmal fehlen uns wesentliche Informationen, und wir liegen einfach falsch.
Sorgfalt schlägt Schnelligkeit
Um den Einfluss (vor-)schneller und nicht nur unrichtiger, sondern auch ungerechter Urteile zu minimieren, müssen sie also buchstäblich ausgebremst werden. Wenn unser Liebesglück, aber auch andere wichtige Beziehungen oder Berufschancen auf dem Spiel stehen, sollten wir mit schnellen Einschätzungen und Charakterdiagnosen zurückhaltend sein. Wir können die Entscheidungsprozesse verlangsamen – und hin und wieder durch kritische Prüfung unsere Anfangsurteile korrigieren. Das ist nicht nur fairer, sondern auch sinnvoller. Sorgfalt schlägt Schnelligkeit: Mehr Pausen bieten mehr Chancen für Reflexion und neue Information. Und für die Korrektur des überbewerteten und mitunter auch falschen ersten Eindrucks sollte es – im wohlverstandenen eigenen Interesse – immer zweite und dritte Chancen geben.
Tipps, um dem ersten Eindruck eine zweite Chance zu geben
1. Schließen Sie die Bestandsaufnahme nie ab.
Bleiben Sie wachsam und offen für andere Interpretationen dessen, was Sie an anderen Menschen beobachten. Es hilft, sich bewusst zu machen, dass wir unsere Mitmenschen nicht objektiv wahrnehmen, sondern immer durch unsere Brille von Stereotypen sehen und dazu neigen, andere in Schubladen zu stecken. Und schon das Sich-bewusst-Machen, dass wir Menschen fast automatisch in solche Schubladen stecken, hilft dabei, diese wenigstens offen zu halten.
2. Seien Sie sich des Halo-Effektes bewusst.
Der Halo-Effekt, erstmals beschrieben von dem amerikanischen Psychologen Edward Thorndike, bezeichnet in der Psychologie eine Wahrnehmungsverzerrung: Wir schließen von einem äußeren Merkmal auf Eigenschaften. Studien belegen: Attraktive Menschen werden automatisch für intelligenter und erfolgreicher gehalten, korpulenten Personen schreibt man Eigenschaften wie Gutmütigkeit und Fröhlichkeit zu – obwohl das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Der Effekt ist nicht ungefährlich. Er kann dazu führen, dass wir einen falschen Partner wählen oder eine unpassende Stelle annehmen, weil der Vorgesetzte so „gemütlich“ wirkt.
3. Kontrollieren Sie Ihre Vorurteile.
Sie sind nicht rassistisch, aber wie die meisten Menschen haben Sie möglicherweise implizite Vorurteile, die ihr Urteil über andere Menschen leiten. Die neuere US-amerikanische Forschung über „impliziten Rassismus“ zeigt, dass etwa selbst liberale, wohlmeinende und jeden Rassismusverdacht weit von sich weisende weiße Ärzte farbige Patienten oberflächlicher diagnostizieren und weniger sorgfältig behandeln als Weiße. In einigen Studien konnte gezeigt werden, wie sich diese Tendenz korrigieren lässt: indem sich Ärzte in speziell aufgelegten Trainingsprogrammen bewusstmachen, wie vorurteilsbefrachtet und fehlerhaft ihre Diagnosen sein können. Solche „Awareness-Programme“ verändern das Verhalten nachweislich und sind auch in anderem Kontext sinnvoll und geboten – etwa in Justiz oder Sozialarbeit. Aber auch im alltäglichen Umgang mit Fremden.
4. Trainieren Sie Ihre Empathie.
Natürlich wissen wir oft sehr genau, wie andere sich in einer bestimmten Situation „richtig“ verhalten sollten. Und neigen zu Kritik, Ironie, sogar zu Verachtung oder Geringschätzung: So ein ungeschickter Tölpel! Vergessen wir nicht: Probleme wirken immer leichter lösbar, solange es nicht unsere eigenen sind. Bemühen wir uns lieber darum, uns in den anderen hineinzuversetzen: Warum hat er gerade solche Probleme? Er ist doch nicht blöd – was geht wohl gerade in ihm vor? Und wären wir wirklich sicher, keinen Blackout zu haben? Diese Empathie schützt davor, vorschnell aus einer Situation heraus ein falsches oder verzerrtes Charakterbild zu zeichnen. Nur weil jemand in einer Situation anders reagiert, als wir es tun würden, ist er noch kein Idiot. Wir würden auch nicht wollen, dass uns jemand nach fünf Sekunden als Dummkopf abstempelt.
5. Werden Sie sensibler für Sprache.
Wenn Sie Menschen reden lassen und auch dann geduldig zuhören, wenn diese anscheinend abschweifen, erfahren Sie viel über deren Meinungen und Werte, über ihren Charakter. Sie geben „nebenbei“ viel von sich preis, wenn sie beispielsweise das Verhalten eines Dritten als „trotzig“ bezeichnen – darin ist möglicherweise eine Abwertung enthalten. Wird dasselbe Verhalten als „standhaft“ gelobt, klingt das nach Anerkennung. Was objektiv klingt, kann ein vergiftetes Kompliment sein und so weiter. Wer ein Ohr für Zwischentöne und sprachliche Feinheiten entwickelt, verbessert seine Intuition deutlich.
Quellen
Super interessant und absolut nachvollziehbar. L. G. NINA
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