Endlich ausschlafen, in Ruhe frühstücken und die Zeitung ohne Hast studieren, eine Runde durch den Park joggen, zum Schwimmkurs gehen, der vorher immer mit den Arbeitszeiten kollidierte, durch Museen schlendern, Freunde treffen, trinken und reden, ohne mit Schrecken an den nächsten Morgen zu denken. Endlich die Enkelkinder öfter besuchen, im Garten aufräumen, ausgedehnte Radtouren machen, ohne Rücksicht auf Dienstpläne nach Lust und Laune verreisen, solange das Geld reicht, Romane lesen am helllichten Tag oder vielleicht selbst einen schreiben? Die ersten Tage in der Rente empfinden die meisten noch als angenehm. Doch spätestens nach ein paar Wochen sind die freien Tage nicht mehr schön, sondern einfach nur sinnentleert, wenn der Wecker nicht mehr klingelt, die Scherze mit den Kollegen ausbleiben, die Bestätigung durch den Beruf fehlt. Interessanterweise sind die Fantasien besonders farbig, wenn die Rente noch in sicherer Entfernung ist. Rückt der Tag X näher, trüben Grautöne die Pracht des inneren Gemäldes. Plötzlich ist da die bange Ahnung, dass das, was nach dem Beruf kommt, vielleicht doch nicht so bunt werden könnte, wie im Kopf sehnsüchtig ausgemalt. Wer bin ich, wenn ich nicht mehr arbeite und nicht mehr gefragt bin? Wie geht es mir, wenn ich rund um die Uhr mit meinem Partner zusammen bin? Was mache ich den lieben langen Tag? Was ist, wenn ich ernsthaft krank werde? Diese Fragen lauern im Untergrund, tauchen kurz an die Oberfläche und werden schnell mit abwiegelnden Sätzen wie „Das lasse ich ganz entspannt auf mich zukommen“ weggedrückt. Doch vieles spricht dafür, diese Fragen nicht weg zu schieben, sondern sie sehr ernst zu nehmen. Idealerweise nicht erst drei Tage, bevor der Wecker nicht mehr klingelt. Denn der Ruhestand oder vielmehr Unruhestand, wie dieser Lebensabschnitt mit Blick auf den satirisch überspitzten Prototyp des agilen, sportlichen, rund um die Uhr verplanten Rentners gerne bezeichnet wird, erfordert eine Vision, die für die nächsten 20 Jahre funktioniert. Aber warum stellt für viele Arbeitnehmer der Renteneintritt, auf den die meisten sich so sehr freuen, ein krisenhafter Einschnitt im Leben dar?
Psychosoziale Funktionen der Erwerbsarbeit
Ein Grund liegt sicherlich darin, dass Arbeit in der Regel nicht nur Geldverdienst bedeutet, sondern darüber hinaus vielfältige psychosoziale Funktionen erfüllt. So unterscheiden beispielsweise Jagoda (1995) und Warr (2007) die folgenden psychosozialen Funktionen von Erwerbsarbeit:
1. Aktivität und Kompetenz
Die Aktivität, die mit Arbeit verbunden ist, ist wichtig für die Entwicklung von Qualifikationen. In der Bewältigung von Arbeitsaufgaben erwerben wir Fähigkeiten und Kenntnisse, zugleich aber auch das Wissen um diese Fähigkeiten und Kenntnisse, also ein Gefühl von Handlungskompetenz. Für Erwerbslose oder Rentner/-innen fehlt diese Grundlage. Sie müssen sich andere Felder für sinnvolle Arbeit suchen.
2. Zeitstrukturierung
Arbeit strukturiert unseren Tages-, Wochen und Jahresablauf sowie unsere Lebensplanung. Sie gibt uns eine Ordnung, an der wir uns orientieren können. Erwerbslosen oder Rentner/-innen „zerrinnt“ häufig die Zeit zwischen den Fingern.
3. Kooperation und Kontakt
Die meisten beruflichen Aufgaben können nur in Zusammenarbeit mit anderen Menschen ausgeführt werden. Dies bildet eine wichtige Grundlage für die Entwicklung kooperativer Fähigkeiten und schafft ein wesentliches soziales Kontaktfeld. Erwerbslose oder Rentner/-innen müssen hier andere Kooperationsmöglichkeiten außerhalb der Arbeit selbst suchen.
4. Soziale Anerkennung
Durch die eigene Leistung sowie durch die Kooperation mit anderen erfahren wir soziale Anerkennung, die uns das Gefühl gibt, einen nützlichen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Bei Erwerbslosen oder Rentner/-innen besteht die Gefahr, dass ihnen diese Anerkennung versagt wird und sie sich nutzlos fühlen.
5. Persönliche Identität
Die Berufsrolle und die Arbeitsaufgabe sowie die Erfahrung, die zur Beherrschung der Arbeit notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zu besitzen, bilden eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung von Identität und Selbstwertgefühl. „Durch Arbeit sind wir Jemand“. Erwerbslosigkeit oder Verrentung entzieht den Betroffenen dies selbstwertstützende Grundlage.
Veränderung der Rentenzeit
Hinzu kommt noch, dass die Zeit nach dem Beruf lang geworden ist. Anfang des vorigen Jahrhunderts betrug die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland nur ungefähr 45 Jahre, der Anteil der über 65-Jährigen lag bei unter fünf Prozent, und nur wenige erreichten das offizielle Rentenalter von 70 Jahren. Ein 65-jähriger Mann hat heute in Deutschland durchschnittlich noch gut 17 Jahre, eine 65-jährige Frau noch fast 21 Lebensjahre vor sich. Die Soziologie spricht vom dritten Lebensalter zwischen 60 und 75. Eine Phase, in der die sogenannten jungen Alten, vom Joch der täglichen Arbeit und Familienpflichten entlastet, eine ganz neue Freiheit genießen können. Die Einschränkungen des hohen Alters scheinen noch weit genug entfernt.
Renteneintritt als Lebenskrise
Aber, so sehr die Rente oft herbeigesehnt wird, so sehr erfüllt der Übergang zur Rente die folgenden Merkmale eines kritischen Lebensereignisses:
- Das Ende des Berufslebens ist ein bedeutsamer Einschnitt, der das bisherige Leben sehr deutlich verändert.
- Jahrelang gewohnte Tätigkeiten entfallen; neue Tätigkeiten müssen entfaltet werden.
- Eine für viele sehr bedeutsame Rolle, die Berufsrolle, geht verloren.
- Die alltägliche Zeitorganisation, die bisherige, gewohnte Tagesstrukturierung, muss geändert und neu gestaltet werden.
- Viele Menschen fühlen sich verunsichert und stehen dem Übergang mit gemischten Gefühlen gegenüber.
Der Rentenbeginn belegt daher auch auf einer Stressskala von mehr als 40 belastenden Lebensereignissen, die die Psychiater Thomas Holmes und Richard Rahe entwickelt haben, immerhin Platz 10. Häufig bauen Menschen, die im Ruhestand ohne Aufgaben und Anstrengung in den Tag hineinleben, geistig und körperlich rapide ab. Je früher die Passivität beginnt, desto fataler sind die Folgen. Die renommierte Altersforscherin Ursula Staudinger, die an der Columbia University in New York lehrt, warnt deshalb vor den negativen Folgen des „Freizeitnirwanas“. Um mit Bernard Shaw zu sprechen: „Immer nur Urlaub ist eine brauchbare Arbeitsdefinition von Hölle.“ Die Arbeitserfahrungen eines Menschen sind laut Staudinger ein wichtiger Teil seiner kognitiven Reserve und schützen vor dem Abbau geistiger Fähigkeiten. Vor einigen Jahren befragte die Forscherin ältere Mercedes-Facharbeiter in Bremerhaven vor und nach dem Renteneintritt zu ihrer Einstellung zum Ruhestand. Das erstaunliche Ergebnis: Viele hatten sich vor dem Beginn der Rente weitaus positiver darüber geäußert als ein Jahr nach Rentenantritt. Staudinger hat dasselbe Thema in einer großen Vergleichsstudie mit Daten aus elf Industrieländern untersucht. Das Resultat: frühe Rente schadet der Gesundheit und reduziert die Lebensfreude. Zahlreiche Studien belegen einen Zusammenhang zwischen kognitiver Unterforderung und dem Risiko, an Alzheimer zu erkranken.
Frauen, so glaubt die Sozialpädagogin Sigi Clarenbach, sind besser gerüstet für die nachberufliche Phase, weil sie mehr Übung darin haben, vielfältige Übergänge zu meistern. Frauen durchleben unterschiedlichste Phasen, arbeiten Vollzeit, machen Familienpause, gehen auf Teilzeit, kehren in einen Vollzeitjob zurück oder machen sich selbständig. So haben sie immer wieder erfahren, dass sie mit Wechseln umgehen und neue Perspektiven entwickeln können. Diese Einschätzung teilt auch der Marburger Psychotherapeut und Altersforscher Meinolf Peters. Gerade für Männer, die viel Selbstbestätigung aus dem Job gezogen haben, sei es oft sehr kränkend, wenn von einem Tag auf den anderen Prestige, Anerkennung und soziale Kontakte wegfallen. Doch perspektivisch gleichen sich die Arbeitsbiografien von Frauen und Männern an und damit in absehbarer Zeit auch die Ressourcen, den Übergang zu meistern.
Vier Gestaltungsmodelle
In der Forschung werden grundsätzlich die folgenden vier Gestaltungsmodelle für die nachberufliche Phase unterschieden.
1. Die Befreiten
Sie atmen auf, wenn das Berufsleben zu Ende geht, weil die Arbeit durch körperliche Beschwerden zur Last wurde oder keine Freude mehr bereitet hat. Sie genießen die neue Lebensphase, um sich in Ruhe ihren Hobbys, Freunden und der Familie zu widmen. Sie leben eher geruhsam, zurückgezogen und häuslich. Manche laufen Gefahr, zu passiv zu werden und kognitiv abzubauen.
2. Die Weitermacher
Sie setzen ihre beruflichen und ehrenamtlichen Aktivitäten auch in der Rente fort. Oft waren sie schon früher selbständig tätig oder sozial engagiert und sind deshalb auch später gefragt als Sportfunktionär/e-innen, Verbandspräsident/-innen, Seminarleiter/-innen und so weiter. Lebenskrisen entstehen, wenn Krankheiten ein weiteres Engagement verhindern oder sie von Jüngeren verdrängt werden.
3. Die Anknüpfer
Sie knüpfen an das an, was sie gut können und immer schon gemacht haben. Wer Buchhalter war, wird im Sportverein Kassenwart oder hilft ehrenamtlich jungen Gründern beim Aufbau einer Selbständigkeit. Anknüpfer nutzen ihre freie Zeit nach dem Beruf gezielt, um neue Aufgaben zu übernehmen, die ihren Kompetenzen entsprechen. Probleme können entstehen, wenn sie als Freiwillige nicht ernst genommen werden oder sich unterfordert fühlen.
4. Die Nachholer
Sie holen nach, was sie während der Berufs- und Familienphase nicht verwirklichen konnten: längere Auslandsreisen, sportliche Aktivitäten, eine Weiterbildung, ein Studium in einem Fachgebiet, das sie immer schon interessiert hat. Sie entdecken ihre Kreativität neu, nehmen Gesangsunterricht, malen oder schreiben ihre Biografie auf und erleben die Rente als eine Phase des Aufbruchs. Probleme können auftauchen, wenn finanzielle Grenzen ein Nachholen verhindern oder der Partner den Aufbruch nicht mitträgt.
Nach Auffassung von Sigi Clarenbach, wird diese schwarz-weiß anmutende Typverteilung in der Babyboomergeneration jedoch bunter und flexibler. Auch Meinolf Peters glaubt, dass die Babyboomer besser mit der Freiheit umgehen als ihre Vorgänger. Gleichzeitig gibt es Hinweise, dass sie deutlich anfälliger sind für psychische Erkrankungen. Er erklärt sich dies damit, dass diese Rentnergeneration höhere Ansprüche an ihr Leben hat und unzufrieden ist, wenn sie das Ideal nicht erreicht. Vielleicht hatte die vorangegangene Generation, die mit einem rigiden Ober-Ich und einem sehr negativen Altersbild großgeworden ist, es leichter, sich mit den Schattenseiten des Alters abzufinden als die Babyboomer, die das Alter eher idealisieren.
Tipps für einen selbstbestimmten Übergang
Der Ruhestand kommt nicht aus heiterem Himmel. Er ist eingebettet in unsere lebenslange Entwicklung. Im Gegensatz zu manch anderen bedeutsamen Ereignissen in unserer Entwicklung, ist der Übergang in die Rente auf unserer „Entwicklungsuhr“ bereits früh zu erkennen. Wir alle wissen, dass wir um das 65. Lebensjahr herum – beziehungsweise zukünftig etwas später – in Rente gehen (müssen). Diese Vorhersehbarkeit hat Vorzüge: Wir wissen im Grunde bereits bei Eintritt in den Beruf, wann wir diesen Lebensbereich wieder verlassen werden und können unsere Lebensplanung auch auf diesen Fixpunkt in unserer Lebenszukunft hin ausrichten. Darüber hinaus sind wir alles andere als allein: Fast allen, die im Beruf stehen, geht es ebenso. Besonders wichtig ist nach Auffassung von Meinolf Peters, ein versöhnlicher Abschied vom Berufsleben und ein wertschätzender Blick auf das, was die Arbeit einem gegeben hat.
- Ziehen Sie also einmal Bilanz über Ihr Arbeitsleben. Was war gut? Was hätte besser sein können? Wie zufrieden bin ich mit meiner Erwerbszeit?
- Tauschen Sie sich mit Ihrem Partner/Ihrer Partnerin über den Rentenübergang vertrauensvoll aus. Lassen Sie hier keine Tabus zu und sprechen Sie über alles.
- Nehmen Sie die Zeit nach dem Übergang in die Rente gedanklich vorweg und spielen Sie Szenarien für die Zeit nach dem Ruhestand durch. Werden Sie dabei möglichst konkret: Was kann ich tun? Woran kann ich anknüpfen? Was kann ich bereits heute an Vorbereitungen treffen? Passt meine/unsere Wohnsituation dann noch zu mir/uns? Wie bin ich/sind wir finanziell aufgestellt und inwieweit werde ich/wir hier in der Erfüllung meiner/unserer Vorstellungen eingeschränkt sein?
- Pflegen Sie schon jetzt ein gutes soziales Netzwerk außerhalb von Arbeitskontakten. Ein gutes soziales Netzwerk wirkt bis ins hohe Alter gesundheitserhaltend und stärkt z.B. unser Immunsystem. Der regelmäßige Austausch mit anderen ist zudem geistig anregend und unterstützt damit langfristig unsere Selbstständigkeit.
Quellen:
- T. H. Holmes, R. H. Rahe: The social readjustment scale. In: Journal of Psychosomatic Research. 11, 1967, S. 213–218.
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Semmer & Udris in Schuler – Lehrbuch der Organisationspsychologie, 2007: Bedeutung und Wirkung von Arbeit
- Wink, P.; Staudinger, U.: Wisdom and psychosocial functioning in later life, Journal of personality, 2016
- Mergenthaler, A.; Sackreuther, I., Micheel, F.; Büsch, V.; Deller, J.; Staudinger, U.; Schneider, U.: Übergänge, Lebenspläne und Potenziale der 55-bis 70-Jährigen: Zwischen individueller Vielfalt, kulturellem Wandel und sozialen Disparitäten, 2015
- Psychologie heute – 09/16
- https://www.psychologie.uni-heidelberg.de/mediendaten/ae/apa/tk-broschuere-aktiv-in-den-ruhestand.pdf