Achtsamkeit ist en vogue – und erhält zunehmend auch wissenschaftlich Rückendeckung. Aber was genau ist damit gemeint und was kann man im Arbeitsalltag aktiv tun? Hilft Achtsamkeit wirklich und wie können Unternehmen ihre Mitarbeiter hier unterstützen?
Definition
Es existieren verschiedenste Definitionen für Achtsamkeit. Eine der in der Forschungsliteratur am häufigsten zitierten Definitionen stammt von Jon Kabat-Zinn. Demnach ist Achtsamkeit die Fähigkeit, bewusst wahrzunehmen, was im gegenwärtigen Moment geschieht, ohne diesen zu beurteilen.
Arbeitsrealität
Eine Studie von Mark und Kollegen zeigte, dass sich ein durchschnittlicher Angestellter mit klassischem Büroarbeitsplatz im Schnitt zehn bis zwölf Minuten auf eine Aufgabe konzentrieren kann, bevor er durch Anrufe oder E-Mails unterbrochen wird. In Kombination mit Arbeitsverdichtung und Zeitdruck beeinflusst dies auch die psychische Befindlichkeit. Vielen Menschen fällt es schwer abzuschalten. Sie fühlen sich gehetzt und nervös. Durch chronische Belastung verringert sich ihre Konzentrations- und Leistungsfähigkeit.
Zur zunehmenden Beschleunigung kommt noch eine weitere Herausforderung: die permanente Veränderung. Eine zentrale Kernkompetenz in der Arbeitswelt ist daher Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit, gerne auch als „Agilität“ bezeichnet. Viele Organisationen suchen nach Möglichkeiten, ihre Mitarbeiter beim Aufbau von Change-Kompetenz und Agilität zu unterstützen. Damit geht es implizit immer auch um die Aufgabe, Stress besser zu regulieren.
Aktuelle Forschungsergebnisse
Zahlreiche Studien ergaben, dass Achtsamkeitsübungen effektiv zur Vorbeugung von Stress, zur Vermeidung eines Rückfalls in Depressionen, zur besseren Aufmerksamkeitssteuerung oder zur Reduzierung von Suchtverhalten beitragen (Übersicht bei Good et al., 2016). Eine Metaanalyse von Lomas und Kollegen wertete alle derzeit verfügbaren Studien zu Achtsamkeit in Organisationen aus und ergab, dass achtsamkeitsbasierte Programme im Unternehmenskontext Stress und stressinduzierte Symptome vermindern.
Darüber hinaus fanden erste Studien heraus, dass Achtsamkeitstrainings sich auf arbeitsspezifische Faktoren wie zum Beispiel emotionale Intelligenz und Produktivität auswirken können.
Was bewirkt Achtsamkeit?
Nach Hölzel et al. (2011) können Achtsamkeitsübungen vier wichtige Fähigkeiten zutage fördern und stärken:
- Verbesserung der Selbst- und Körperwahrnehmung (lnterozeption): Achtsamkeitsübungen trainieren die Körperwahrnehmung und führen dazu, dass wir Veränderungen in unserer Stimmung früher wahrnehmen und ihre körperlichen Auswirkungen genauer beschreiben können. Dadurch stehen uns bessere Regulationsmöglichkeiten zur Verfügung.
- Aufmerksamkeitssteuerung: Ohne Training haben die meisten Menschen nur eine mäßig ausgeprägte Reizresistenz. Empirische Studien haben gezeigt, dass schon kurze Achtsamkeitsübungen unsere Konzentrationsfähigkeit positiv beeinflussen – fast als würde ein geistiger Muskel ausgebildet (zum Beispiel Maclean et al., 2010).
- Emotionale Regulierung: An negative Erfahrungen erinnert man sich aus evolutionsbiologischen Gründen besser, weil sie häufig überlebenswichtige Lernerfahrungen transportieren. Das kann sinnvoll sein. Zum Problem wird es, wenn eine Person lange über ein negatives Ereignis grübelt und sich nicht mehr davon lösen kann. Diese Fähigkeit, sich aus negativen Gedankenspiralen zu lösen, wird mit Achtsamkeitsübungen eingeübt.
- Positive Grundeinstellung: Die Wertschätzungskultur in Unternehmen operiert häufig noch nach dem Motto: „Nix gesagt ist genug gelobt“. Oft merken wir nicht (mehr), wie gut es uns auf vielen Ebenen geht, etwa wie interessant der eigene Job ist oder wie nett die Kollegen sind. Achtsamkeitspraxis stärkt die Wahrnehmung von dem, was positiv ist.
Was tun?
In der Tat reicht es meist schon einfach aufrecht zu sitzen, den Atem oder den Moment bewusst wahrzunehmen und jedes Mal, wenn der Geist abschweift, die Aufmerksamkeit zurückbringen. Grundvoraussetzungen sind jedoch die Bereitschaft dazu und ein bisschen Zeit.
Achtsamkeit ist aber keine magische Pille und kann nicht über Nacht ausgebildet werden. Man muss kontinuierlich etwas dafür tun.
Praxistipps
- Achtsamkeit braucht Zeit und Raum. Viele Maßnahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements verkümmern, weil nicht berücksichtigt wird, dass Menschen in der Regel Schwierigkeiten haben, ihre etablierten Verhaltensmuster zu verändern. Die Bereitschaft zur Veränderung braucht immer einen geeigneten Kontext, in dem sich diese Veränderung realisieren kann.
- Achtsamkeitstrainings in der Arbeitswelt sollten wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse vermitteln. Es sollten Komponenten der Psychoedukation über Stress und Multitasking vermittelt sowie grundlegende neurobiologische Wirkmodelle vorgestellt werden.
- Mikro–Interventionen für den Alltag sind besonders effektiv. Es ist hilfreich, solche Übungen in den Arbeitstag zu integrieren.
- Man sollte dem Wunsch der Führungskräfte nach Integration nachkommen. Grundsätzlich sind Vorgesetzte offen für das Thema. Allerdings sollte man bereits im Vorfeld auch auf ihre Bedenken und Skepsis eingehen.
- Die Führungskräfte haben eine wichtige Rolle. Bekennt sich ein Entscheidungs- und Leistungsträger positiv zu den Übungen und teilt seine eigenen Erfahrungen, steigt die Bereitschaft der anderen Teilnehmer zum Mitmachen.
- Teams werden effektiver. Durch Entschleunigung, Entspannung, gutes Zuhören, Wertschätzung und vor allem gemeinsame Konzentration können Veränderungsprozesse schneller und besser initiiert werden. Achtsamkeit im Team zu üben und gemeinsam zu reflektieren, hat sich als probates Mittel herausgestellt, um den Zusammenhalt im Team und die Effektivität deutlich zu steigern.
- Räume schaffen. Viele Organisationen haben erkannt, dass Achtsamkeit nicht nur gut für die Gesundheit ist, sondern auch eine veränderte Atmosphäre schaffen kann. Um Achtsamkeit kultivieren zu können, sollten Unternehmen Räume zur Verfügung stellen, in denen allein oder gemeinsam geübt werden kann. Große Wirtschaftsunternehmen haben dafür bereits Achtsamkeitsräume eingerichtet.
Quellen
Good, D. J., Lyddy, C. J., Glomb, T. M., Bono, J.E., Brown, K.W., Duffy, M. K.et al. (2016). Contemplating Mindfulness at Work: An Integrative Review. Journal of Manage ment,42 (1), 114-142.
Hagger, M., Wood, C., Stiff, C. & Chatzis arantis, N. (2010). Ego Depletion and the Strength Model of Self-Control: A Meta-Analysis. Psychological Bulletin, 136 (4),495- 525.
Hölzel , B. K., Lazar, S. W., Gard, T., Schuman –Olivier, Z., Vago, D.R.&Ott, U. (2011). How Does Mindfulness Meditation Work? Proposing Mechanisms of Action from a Conceptual and Neural Perspective. Perspectives on Psychological Science, 6 (6), 537-559.
Lomas, T., Medina, J. C., lvtzan, I., Rupprecht, S., Hart, R. & Eiroa-Orosa, F. J. (2017). The Impact of Mindfulness on Well-Being and Performance in the Work place: An lnclusive Systematic Review of the Empirical Literature. European Journal of Work and Organizational Psychology, 26 (4), 1-22.
Maclean , A., Ferrer, E, Aichele , S. R. et al. (2010). Intensive Meditation Training lmproves Perceptual Discriminationand Sustained Attention. Psychological Science, 21 (6),829-839.
Wikipedia
Wirtschaftspsychologie aktuell Ausgabe 03/17